PresseDKOU
Pressemitteilung zum DKOU 2021

Überrollen die Babyboomer in 20 Jahren die Orthopädie?

Pressekonferenz DKOU Prof. Dr. Wirtz
© DGOU

Professor Dr. Dieter C. Wirtz, Kongresspräsident des diesjährigen Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), warnt auf der DKOU-Pressekonferenz davor, dass das aktuelle Gesundheitssystem nicht adäquat auf die geburtenstarken Jahrgänge vorbereitet sei, wenn diese altersbedingt Knie- und Hüftoperationen benötigen. „Die Babyboomer überrollen die Orthopädie, wenn wir jetzt nichts ändern“, sagt Wirtz. Deshalb fordert der Experte zur rechtzeitigen Lösung eine bessere Kooperation zwischen orthopädischer Chirurgie, Geriatrie, speziell ausgebildeten Altenpflegern sowie Physio- und Ergotherapeuten. Die detaillierten Ausführungen stehen im Weißbuch Alterstraumatologie und Orthogeriatrie, welches der Kongresspräsident auf dem DKOU 2021 vorstellt.

Von 2015 bis 2050 nimmt in Deutschland das Bevölkerungswachstum der über 70-Jährigen um fast die Hälfte zu (46 Prozent). Muskuloskelettale (MSK) Erkrankungen und Verletzungen bilden nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Ursache für stationäre Behandlungen in deutschen Krankenhäusern mit jährlich 1,72 Millionen Patienten und Patientinnen (2019). Zu ihnen gehören vornehmlich Rückenleiden, Hüft- und Knieprobleme, Osteoporose sowie Arthrose. 64 Prozent aller Frauen über 75 Jahre und 46 Prozent aller Männer über 75 Jahre leiden an MSK-Erkrankungen. Wirtz erklärt: „Mit den Babyboomern kommt ein Tsunami auf die Orthopädie zu. Nicht nur die vermehrten Patientenzahlen, sondern vielmehr die Multimorbidität dieser älteren Menschen ist das Problem. Wir haben jetzt noch Zeit, uns darauf einzustellen. Wir wollen grundsätzlich erreichen, dass alte Menschen zukünftig ihre Beweglichkeit und Unabhängigkeit behalten. Nur mit Mobilität hat man Lebensqualität – auch und insbesondere im Alter. Dass das möglich ist, dafür müssen wir jetzt strukturell und personell die Weichen stellen.“

Darum ist eine Hüftoperation mit 80 zu empfehlen
Orthopädische Erkrankungen (beispielsweise Hüft- und Kniearthrose, Wirbelsäulenverschleiß) schränken Menschen im höheren Alter in der Mobilität und Eigenständigkeit ein. Und das habe Folgen, sagt Wirtz: „Wer durch Einschränkungen der Beweglichkeit nicht mehr am öffentlichen Leben teilnimmt, vereinsamt“, und führt dies weiter aus: „Bewegungsfähigkeit im Alter verringert das Risiko für andere Erkrankungen.“ So nimmt eine gute Bewegungsfähigkeit positiven Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System, auf den Blutdruck, auf Diabetes und unterstützt die Behandlung der Osteoporose. „Wir müssen“, sagt der Kongresspräsident, „etwas tun, um der älteren Generation ein lebenswertes Altern zu ermöglichen.“ Dabei hebt der Experte hervor, dass künstliche Hüftgelenke oder Operationen an der Wirbelsäule auch im hohen Alter selbstverständlich sein müssen, sofern das Operationsrisiko vertretbar ist: „Eine Hüftoperation ist auch mit 80 Jahren gut machbar.“

Der orthogeriatrische Patient kann für orthopädische Eingriffe besser vorbereitet werden
Orthogeriatrische Patienten und Patientinnen haben eine Hauptdiagnose (wie beispielsweise Arthrose des Hüft- oder Kniegelenks), die behandelt wird. Sie sind entweder mindestens 80 Jahre alt oder 70 Jahre und älter mit gleichzeitigem Vorliegen von mindestens zwei Geriatrie-typischen Erkrankungen (wie Demenz, Mangelernährung, Inkontinenz, chronische Schmerzen, Gebrechlichkeit, Dehydratation). Jemand mit dieser Ausgangssituation zählt als Risikopatient.

Wirtz sieht bei den orthogeriatrischen Patienten und Patientinnen die Notwendigkeiten, die Strukturen im Krankenhaus sowohl den zu erwartenden Patientenzahlen als auch dem gegebenen Risikoprofil anzupassen, um die Versorgungsqualität zu erhöhen. Der Anteil orthogeriatrischer Patienten und Patientinnen mit risikobehafteten Zusatzerkrankungen liegt derzeit bei künstlichen Hüften (Hüftendoprothesen) bei etwa 20 Prozent, Tendenz steigend. Bei den Prothesenwechsel-Operationen erhöht sich der Anteil auf 40 Prozent, wobei Wirtz klarstellt: „Wir haben keine Altersgrenze bei orthopädischen Operationen, auch nicht bei Risikopatienten. Wir brauchen für Risikopatienten eine bessere interdisziplinäre Versorgung.“

Wie sieht die Lösung aus?
Orthogeriatrische Patienten und Patientinnen sollen zukünftig in Zentren operiert werden. Es bedarf eines spezialisierten Teams, welches die Besonderheiten älterer Patienten kennt und auch bei perioperativen Komplikationen schnell reagieren kann. Dazu ist die enge tägliche Zusammenarbeit zwischen orthopädischem Personal aus Chirurgie, Geriatrie, Altenpflege sowie Physiotherapie notwendig. In dieser Kombination findet schon präoperativ eine effektivere medikamentöse Einstellung der Patienten statt. Kognitive Schulungen und therapeutische Übungen vor sowie nach der Operation wirken unterstützend, um möglichst operationsbegleitende Delirzustände (geistige Verwirrung) zu vermeiden. Wirtz: „Zentren sind die Zukunft.“ Orthogeriatrische Patienten und Patientinnen erreichen dann nach einer orthopädischen Operation schneller einen höheren Mobilitätsgrad, wenn die Vorbereitung und die postoperative Betreuung darauf besser abgestimmt stattfinden.

Dieser in den Augen des Kongresspräsidenten notwendige Strukturbedarf verursacht zusätzliche Kosten, die aktuell nicht im DRG-System (Diagnosis Related Groups ist ein pauschalisiertes Abrechnungssystem, bei
dem ohne die tatsächliche Verweildauer der Patienten und Patientinnen im Krankenhaus über Fallpauschalen abgerechnet wird) enthalten ist. Wirtz rechnet mit etwa 20 bis 30 Prozent höheren Kosten pro Geriatrie-Patient bei Hüft- und Knieprothesen. Dennoch unterstreicht der Chefarzt und Kongresspräsident: „Die Mobilität älterer Patienten ist nicht zu diskutieren. Sie ist ein absolutes Muss in einer sozialen und selbstbestimmten Gesellschaft.“

Das Weißbuch Alterstraumatologie und Orthogeriatrie
Das neue Weißbuch, das Ärztinnen und Ärzte des Fachgebietes Orthopädie und Unfallchirurgie gemeinsam mit Geriatern und Geriaterinnen auf dem DKOU 2021 in Berlin der Öffentlichkeit vorstellen, stellt die Besonderheiten in der orthogeriatrischen Versorgung auf Basis wissenschaftlicher Evidenz dar, um politischen Entscheidungsträgern belastbare Fakten für Entscheidungen zu bieten, damit die Versorgung der alternden Gesellschaft sichergestellt ist.
 


Prof. Dr. Dieter C. Wirtz ist einer der drei Kongresspräsidenten des DKOU 2021 und seit 2020 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). Seit 2006 ist er als Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Bonn und seit 2008 als Geschäftsführender Direktor am Chirurgischen Zentrum der Universität Bonn tätig.

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