Forschungsstandort Berlin
Muskuloskelettale Forschung in der Tradition von Julius Wolff
Das Julius Wolff Institut wurde 2008 von Prof. Dr.-Ing. Georg N. Duda und Prof. Dr.-Ing. Georg Bergmann gegründet. Ziel des Institutes ist es, die Grundidee von Julius Wolff, dem ersten Ordinarius für Orthopädie an der Charité, in den Fokus von Therapieentwicklungen zu stellen. Wolff hat als erster die enge Kopplung von Mechanik und Biologie für den Knochen erfasst. Orthopädie wie Unfall- und Wiederherstellungschirurgie korrigiert die durch Unfall oder Fehlbildung gestörte Mechanik bei Patienten und nutzt dabei die enge Beziehung von Biologie und Mechanik.
Die Verbindung existiert aber nicht nur auf Organebene, sondern auch auf zellulärer und subzellulärer Ebene. Beispielsweise moduliert die Steifigkeit eines Gewebes, genauer das Stress-Relaxationsverhalten, entscheidend zelluläre Funktionen, wie Migration, Proliferation, Differenzierung oder aber auch die Aktivierung von Immunzellen. Zellen wiederum gestalten und verändern ständig die sie umgebende extrazelluläre Matrix und modulieren dadurch ihre biomechanische Mikroumgebung. Die extrazelluläre Matrix ist ein integraler Bestandteil biologischer Entscheidungsprozesse und dient sowohl als Speicher biologischer Informationen als auch als Übermittler biologischer Signale über große Strecken.
Biomechanik und Biologie der Muskuloskelettalen Regeneration
Vor diesem Hintergrund und mit klarem Fokus auf klinische Fragestellungen hat sich das Julius Wolff Institut (JWI) der Regeneration, der Wiederherstellung der Gewebehomöostase verschrieben. Es hat seinen Ursprung in der Zusammenführung von drei Forschungslaboren: Dem Labor der Orthopädie des Oskar-Helene-Heims, dem Labor der Unfallchirurgie am Virchow-Klinikum und dem Labor der Orthopädie der Charité Mitte. Seither steht das JWI im engen Verbund mit den Kliniken der Orthopädie und Unfallchirurgie und hat maßgeblich am Entstehen des Centrums für Muskuloskeletale Chirurgie (CMSC) der Charité – Universitätsmedizin Berlin mitgewirkt.
Ausgehend vom klinischen Problem bringt das JWI mit Blick auf den Patienten innovative Therapieansätze zum Einsatz. Hypothesen ergeben sich durch das Untersuchen des klinischen Problems, müssen oft grundlegend in präklinischen Proof-of-Concept Ansätzen untersucht und letztlich in klinischen Zulassungsphasen (I – III) bestätigt oder verworfen werden. Gerade diese klinische Umsetzung erlaubt es, ein tieferes Verständnis zu erlangen und auch Therapieansätze zu optimieren („refined Translation“). In diesem Sinne kann Translation auch erkenntnisgeleitete Forschung sein.
Inhaltlich treibt die Forscher – im Wolff’schen Sinne – die Frage nach der wirksamen Gelenkbelastung und der sich daraus ergebenden (bzw. nutzbaren) biologischen Adaptation. Um die Belastung qualifiziert verstehen zu können, hat vor Jahren Prof. Dr.-Ing Georg Bergmann seine Telemetrie entwickelt mit der noch heute bei Patienten mit Hüft- und Knieendoprothesen die Belastung in vivo gemessen werden (Leitung Philipp Damm). Diese Daten sind Grundlage für die Normen bei der Zulassung von Endoprothesen weltweit und bilden die Basis für einen Klub von Industrieunternehmen, die diese einmaligen Daten in die Produktentwicklung einfließen lassen.
Um das Verständnis der in vivo wirkenden Lasten weiter zu vertiefen, haben die Mitarbeiter am Julius Wolff Institut darüber hinaus mit dem „OrthoLoadLab“ eine weltweit einmalige 3D-funktionelle Bewegungsanalyse etabliert. Belastung, Bewegung, Training und Geweberegeneration sind eng gekoppelt und lassen sich patientenspezifisch steuern (Leitung Alison Agres). Vor diesem Hintergrund bietet das JWI in „BeMoveD“ Patienten mit Gonarthrose, Non-Copern nach Riss des vorderen Kreuzbands (ACL-Ruptur) aber auch Sportlern eine Bewegungs- bzw. Laufdiagnostik an, die mit einem patientenindividuellen Training eine unmittelbare Rückkopplung für den Patienten erlaubt (Leitung Srdan Popovic).
Oftmals aber sind rein konservative Therapieansätze nicht hinreichend und es wird essenziell, die Wechselwirkung zwischen Belastung, Beanspruchung und Entzündung genauer zu verstehen. Mit dem neu eingerichteten Bereich Advanced Therapies (Leitung Tobias Winkler) entwickelt das JWI Advanced Medicinal Therapeutic Products (ATMPs) zur Regeneration von Muskel- und Knochenverletzungen bis zur klinischen Zulassung. Dabei steht – neben dem Aufbau verletzten Gewebes, inhaltlich die Immunmodulation im Zentrum der Arbeiten des Instituts. Mit Hilfe von präklinischen Modellsystemen konnte gezeigt werden, wie zentral Entzündung – und besonders deren gezielte Herunterregulation - für eine schnelle Regeneration ist.
In Biologie der Knochenheilung werden die Grundlagen für neuartige Therapien der Immunmodulation entwickelt (Leitung Katharina Schmidt-Bleek). Dabei zeigte sich, wie modellhaft Knochenheilung für endogene Regeneration ist: Im Gegensatz zu vielen anderen Organen heilt Knochen bis ins hohe Alter ohne Narbenbildung. Bei chronischer Entzündung oder metabolischen Erkrankungen verändern sich Heilungskaskaden. Bei komplexen Verletzungsmustern, wie bei einem Polytrauma, kann Heilung verbessert oder verschlechtert werden.
Die Mitarbeiter erforschen diese Modulation von Knochenheilung durch das zentrale Nervensystem in der Molekularen Traumatologie, um die effektive Frakturheilung nach einem Schädel-Hirn-Trauma besser verstehen zu können (Leitung Serafeim Tsitsilonis).
Ausgehend von dem grundsätzlichen Verständnis von Heilung werden in der Muskuloskeletale Zellbiologie Testsysteme zur (prospektiven) Identifikation von Patienten mit eingeschränktem Heilungspotenzial entwickelt (Leitung Sven Geissler).
Insbesondere die Analysen zu den Metallintoxikationen bei Revisionspatienten haben dazu motiviert, diese Forschungsansätze in eine reguläre Diagnostik am CMSC zu überführen. Zentral für die Forschungsfragen am JWI ist gut charakterisiertes primäres Patientenmaterial verbunden mit der Möglichkeit einer klinischen Nachverfolgbarkeit des Spenders. Hierfür konnte eine entsprechende Core Unit Cell Harvesting aufgebaut werden, die die Basis für viele Forschungsprojekte in der ganzen Charité bildet (Leitung Simon Reinke).
Im Bereich der Sehnenregeneration zeigt sich, wie wichtig die Mechanik-Immunologie-Kopplung und wie relevant adaptive Immunität für Heilungschancen – bzw. Narbenbildung – bei Schulter- und Achillessehnenverletzungen ist (Leitung Franka Klatte-Schulz).
Im Sinne von Julius Wolff sind (Bio-)Materialien essenziell für die Geweberegeneration und Wiederherstellung der Homöostase. Von zentraler Bedeutung sind die mechano-biologischen Wechselwirkungen von Zellen mit ihrer extrazellulären Matrix (ECM) als auch, wie Materialien Zellen beeinflussen und Heilung ermöglichen. Mit der Zellulären Biomechanik bringt das Institut innovative Biomaterialien zum Beeinflussen von zellulären Prozessen in die Klinik (Leitung Ansgar Petersen).
Dabei ist es bedeutsam, die mechano-biologische Kopplung zu verstehen, um sie auch nutzbar machen zu können. Dazu entschlüsselt die Forschungsgruppe in der Computergestützten Mechanobiologie die Prinzipien der mechano-biologischen Kopplung von Zellen und Matrix (Leitung Sara Checa). Diese Kopplung ist nicht nur in der Geweberegeneration von Knochen und Muskeln zentral, sondern hat insbesondere auch für degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule eine herausragende Bedeutung.
Aufbauend auf telemetrischen Messungen der Belastungen wird in der Biomechanik der Wirbelsäule mit Hilfe numerischer Methoden und In-vivo-Messungen der Rückenbeweglichkeit die Kopplung von Bewegung, Belastung und Beanspruchung bei Patienten und Gesunden untersucht (Leitung Hendrik Schmidt).
Zunehmend wird deutlich, dass auch in Orthopädie und Unfallchirurgie eine systemmedizinische Betrachtung – also über Organ und Systemgrenzen hinweg zu Gunsten einer ganzheitlichen Perspektive – wichtig für ein tiefergehendes Verständnis von Krankheitsentstehen und die Entwicklung regenerativer Therapieansätze ist. Die Entschlüsselung der Wechselwirkung von Wirbelsäule, Becken und Hüftgelenk ist essenziell für das Verstehen von Gewebedegeneration in dieser zentralen Skelettachse. Hier zeigt sich erneut, wie zentral die adaptive Immunität für die Knochenformation bei der spinalen Fusion ist (Leitung Matthias Pumberger).
Ab Januar 2021 wird das Julius Wolff Institut (JWI) gemeinsam mit dem Berliner Centrum für Regenerative Therapien (BCRT) Teil des Berlin Institut of Health (BIH) in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Das JWI wird sich auf die Charakterisierung klinischer Fragestellungen und Grundlagenforschung konzentrieren, während im BCRT die Diagnostik- und Therapieentwicklung nach ATMP- beziehungsweise MDR-Regularien (Europäische Medizinprodukteverordnung) im Mittelpunkt stehen werden. Über Schnittstellenprofessuren sind JWI und BCRT eng mit dem CMSC verbunden, in dem die Patientenbetreuung und die Durchführung der Zulassungsstudien stattfinden.
Das JWI und das BCRT finanzieren sich je zu circa 80 Prozent aus Drittmitteln, die primär von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der EU kommen und zu einem kleineren Teil aus der Industrie im Rahmen von Co-Development-Projekten. In der Vergangenheit konnten wir eine klinische Forschergruppe (KFO 102) und einen Sonderforschungsbereich (SFB 760), jeweils begünstigt durch die DFG, betreuen – seit November 2020 nun einen weiteren SFB zur Knochenregeneration (SFB 1444). Derzeit gibt es am Standort eine DFG-unterstützte Forschungsgruppe „Regeneration in Aged“ (FOR 2165). Es werden EU-Verbünde und mehrere klinische Zulassungsstudien koordiniert, die das BMBF subventioniert.
Im Rahmen der Exzellenz-Initiative wurde am Standort eine Graduiertenschule aufgebaut, (Berlin-Brandenburg School for Regenerative Therapies, GSC 203), die für naturwissenschaftliche Doktoranden eine spezifische Förderstrategie bereitstellt. Für den klinischen Nachwuchs konnte aus der BSRT-Graduiertenschule eine spezifische Förderung ins Leben gerufen, die inzwischen Charité-weit ausgebaut und "Role-Model" für das „DFG-Clinician-Scientist-Programm“ wurde. Von der Einstein-Stiftung Berlin gibt es für innovative Ideen Anschubförderungen und sogenannte Einstein-Kick-Boxen über das Einstein-Zentrum Regenerative Therapien der Charité. Dadurch konnten Grundstrukturen zum Mentoring von wissenschaftlichem Nachwuchs auf allen Karrierestufen in der Medizin aufgebaut werden.
Bevor das JWI 2008 gegründet wurde, entstand die winkelstabile Frakturversorgung in Berlin und hat sich von hier aus zum weltweiten Standard entwickelt. Die Beschichtung von Implantaten mit Antibiotika wurde für Marknägel von Prof. Dr. Gerhard Schmidmaier, Prof. Dr. Michael J. Raschke und Prof. Dr. Britt Wildemann entwickelt und ist heute als Produkt erhältlich. Prof. Dr. Georg Bergmann hatte die Telemetrie in die Implantate gebracht und uns Einblick in die In-vivo-Belastungen gegeben. Die resorbierbare Schraube von Dr. Andreas Weiler war ebenfalls ein besonderer Erfolg.
Neue Implantatkonzepte in der Endoprothetik und deren Optimierung durch In-vivo-Kinematikanalysen an Patienten mit Prof. Dr. Carsten Perka und PD Dr. Hagen Hommel sind herausragende Erfolge. Zudem waren das Einwerben klinischer Forschungsgruppen, Sonderforschungsbereiche und Forschungsgruppen zentrale Erfolge, die dazu führten, dass heute die Rolle der Entzündung und deren Wechselspiel mit der Mechanik als leitende und steuernde Kraft regenerativer Prozesse im Mittelpunkt der Arbeiten am JWI stehen.